Heraus aus der Komfortzone
Text: Stefan GoldmannVeröffentlicht im Groove Magazine
Neue Musik und elektronische Musik fangen an, sich füreinander zu interessieren. Wurde auch Zeit, sagt einer, der mit Neuer Musik aufwuchs und heute elektronische Musik produziert.
Neue Musik – die im 20. Jahrhundert entwickelte atonale Konzertmusik – ist ein erlernter Genuss. Wie dunkle Schokolade, Zigaretten oder harter Alkohol. Bei der ersten Begegnung ist sie praktisch ungenießbar. Die meisten finden nur langsam Zugang zu ihr, Gefallen daran vielleicht erst später. Ich selber gehöre einer seltenen Spezies an: als Kind zweier Aktivisten der Neuen Musik musste ich mit diesen schrägen Klängen von Anfang an aufwachsen. Obwohl ich mich später eher für Techno interessiert habe, ist mir diese Musik dennoch eine Art Muttersprache geblieben. Selten gesprochen, aber meist gut verstanden. Die Eingewöhnungszeit, die viele bei Neuer Musik brauchen, wurde mir nicht gegönnt. Ich musste da gleich durch. Techno hingegen ist heute so allgegenwärtig, dass er die musikalische Muttersprache mindestens einer Generation geworden ist. Man glaubt daher kaum, wie viel Widerstand die Idee, Musik auf strikte Repetition zu fokussieren, früher provozieren konnte.
„Wir kamen nach Europa, spielten Drumming und etliche Konzertkritiker gebrauchten Vokabeln wie ‚faschistisch’ und ‚Fließband.’ Damals wollte ich ihnen mit meinen Stiefeln das Hirn aus dem Schädel treten.“, berichtet Steve Reich über seine Erfahrungen aus dem Jahr 1972. Der Vorwurf fand sich ähnlich auch schon früher bei Adorno gegen Stravinsky. Es brauchte noch gar keinen Techno, um zu ermitteln, was die großen entgegengesetzten Entwürfe in der musikalischen Moderne sind: expressiver Individualismus und die Reize maschinenhafter Zeitgliederung.
Die fortschrittsgläubigsten kulturellen Sphären haben auch gerne die größten Scheuklappen. Die Neue Musik sträubte sich gegen Wiederholungen – die elektronische Clubmusik entwickelte das entsprechende Gegendogma der Dancefloor-Funktionalität. Vielleicht ist das notwendig, damit man überhaupt erst den Kern der Sache findet. Denn ansonsten gibt es genug Gemeinsamkeiten: Techno ist im Kern atonal, Neue Musik auch. Beide verabschiedeten sich von den Traditionen und wagten das radikal Neue. Ein großer Graben blieb aber. So entwickelten sich abgeschottete Parallelkulturen und die Vorgaben wurden erst einmal nur intern in Frage gestellt: von Autechre bis Hudson Mohawke und von der Minimal Music Reichs bis zu Ligetis rhythmischen Vexierbildern bestätigen die Ausnahmen die Regeln.
Bis beide Sphären anfingen, sich wirklich für einander zu interessieren, mussten sie erst einmal an ihre eigenen Grenzen stoßen. Der Anthropologe Arnold Gehlen führte 1961 den Begriff der „kulturellen Kristallisation“ ein: Ein Zustand, der auf einem kulturellen Gebiet erreicht werde, „wenn die in ihm angelegten Möglichkeiten in ihren grundsätzlichen Beständen alle entwickelt sind. Man hat auch die Gegenmöglichkeiten entdeckt, so dass nunmehr Veränderungen in den Grundanschauungen zunehmend unwahrscheinlich werden.“ Weiterhin herrschen dann Geschäftigkeit und Beweglichkeit, es gibt dauernd einzelne Fortschritte, Neuigkeiten, Überraschungen – „aber doch nur in dem schon abgesteckten Feld und auf der Basis der schon eingelebten Grundsätze“, die nicht mehr verlassen werden. Das Feld „kristallisiert.“ Immer kleinere Ausformungen schimmern in einem Gebilde, dessen Außengrenzen erstarrt sind. Sowohl die „Neue“ als auch die elektronische Musik scheinen diesen Zustand erreicht zu haben. Alles an der Maschine rotiert, sie verharrt aber auf der Stelle.
Die Neue Musik lebte von großen Ideen – Zwölftonreihe, Serialismus, Eroberung der Geräuschsphäre, Stille. Seit den siebziger Jahren sind die Ideen kleiner geworden und eine Zersplitterung in individuelle Ansätze ohne große Nachwirkungen dominiert das Bild. Elektronische Musik hingegen erlebte immer Kreativitätsschübe, wenn eine neue Technologie auf ein kulturelles Bedürfnis traf, das bereit war, sich darin zu entladen. Techno, House, Hip Hop, Drum’n’Bass und so weiter lassen sich alle anhand bestimmter Geräte erklären, aber auch mit einem kulturellen Nährboden, der selbst in den frühesten Entwürfen eine Relevanz entdecken konnte. Dieses Umschlagen in eine kulturelle Praxis hat den Innovationen der elektronischen Musik das gesellschaftliche Fundament verliehen, das der Neuen Musik bis heute oft fehlt. Die Technikentwicklung kristallisiert aber selber – statt echter neuer Algorithmen folgen lediglich Auffüllungen immer größerer Rechnerleistung. Es ist, als wenn ein Maler immer größere Leinwände bearbeitet – über die Inhalte besagt das erst einmal nichts. Kristallisation ist aber kein Dauerzustand. Kommt eine wirklich neue Technologie, wird auch ein Sprung der Inhalte ausgelöst. Bis dahin arbeitet man sich an immer marginaleren Details ab oder greift in die Mottenkiste – Stichworte Slowhouse und Disco Edits. Fängt die Detailarbeit an zu langweilen, wächst die Attraktivität der Entwürfe von außerhalb. Das jeweilige kristalline Feld lässt sich eben auch überwinden, indem man es mit anderen Feldern zusammenführt.
Techno und Verwandte vermengen sich mit immer neuen äußeren Einflüssen, um der eigenen Stagnation zu entkommen. Überall, wo Musikelektronik verfügbar wird, entstehen neue Verknüpfungen – von Baile Funk bis Kwaito und von Chalga bis Thaitech. Das sind lokale Entwicklungen, die nur sehr verlangsamt in die Techno-Zentren Einflüsse zurückspeisen. Es fehlt an der kulturellen Grundlage, um etwas wie Kwaito wirklich verarbeiten zu können. Der nahe Schritt, der für uns hier seit geraumer Zeit sichtbar wird, ist daher die Annäherung an den jeweils anderen großen ästhetischen Gegenentwurf der Moderne: Techno und Neue Musik.
Das Radikalste, was noch zu tun verblieb, war den am Loop kränkelnden Techno Langzeit-Formentwicklungen auszusetzen und der rhythmisch verkümmerten Neuen Musik mit den Ausdrucksmöglichkeiten, die ein klares zeitliches Gliederungssystem überhaupt erst zulässt, neues Leben einzuhauchen. Nach der Überwindung der Dogmen ist dabei das zentrale Problem: man hat immer zu wenig Sachkenntnis im anderen Bereich. Deshalb gestaltet sich die Einbindung von klassischen Musikern in elektronischen Zusammenhängen meist genau so peinlich wie der Rückgriff der Komponisten auf das, was sie für Techno halten. Die meisten Versuche bislang gingen entsprechend auch nicht über einen Flirt oder bloße Tapete hinaus. Das Scheitern an den Kriterien mindestens einer Seite (meist aber beider) lässt sich schwer vermeiden.
In die Clubs geschmuggelt
Dieses Problem hat auch mir einiges Kopfzerbrechen bereitet. Das klangliche Universum der Neuen Musik wollte ich einerseits schon immer auf elektronische Musik anwenden. Andererseits habe ich eben nur partielle Kompetenz in ersterem Bereich. Ich traue mir z.B. nicht zu, ein Streichquartett zu schreiben – wenn ich eines höre, glaube ich aber erkennen zu können, in welcher Qualität das vorliegt. Dieses Manko habe ich zunächst einfach beseitigt, indem ich die Demos geplündert habe, die sich auf dem Schreibtisch meines Vaters, des Dirigenten und Komponisten Friedrich Goldmann stapelten. Zunächst faszinierte mich die Exklusivität – eine Aufnahme irgendeines obskuren Komponisten aus Minnesota hatte ich als Sample quasi für alle Zeiten für mich allein. Andererseits verschiebt Sampling den Akzent von der Erzeugung auf die Auswahl. Der Steinmetz schafft nicht den Stein – der Stein hat aber Bedeutung für das Ergebnis der Arbeit.
Irgendwann wurden die Samples größer. Es entwickelte sich ein Wettbewerb daraus, wer die Dinge am längsten laufen ließ und trotzdem etwas Sinnvolles daraus schuf. So ist eine Menge einst Unvereinbares, nun in parallelen Strömen wuchernd, in die Welt der Clubs geschmuggelt worden. Von Ricardo Villalobos, Wolfgang Voigt, Raudive, Agoria und neulich auch Robag Wruhme. Mit Lunatic Fringe oder zuletzt The Grand Hemiola, in dem sich fünf Minuten Orchester gegen den Beat schieben, habe ich mir auch ein paar Exzesse erlaubt. Die Hände vom Lenkrad nehmen und schauen was passiert. Diese Schule ist noch ausbaufähig – man tausche das Sample gegen originär komponiertes Material. Kompetenz bündeln. Ein Komponist schreibt für das Ensemble, ein Producer verantwortet das elektronische Gerüst – und jeder wagt sich heraus aus seiner Komfortzone. Die Komponisten waren aber auch nicht völlig faul. Mit Paul Frick ist erstmals seit Cristian Vogel wieder jemand aus dem Hochschulkontext in den Clubs erfolgreich: Brandt Brauer Frick führen Techno mit den Mitteln eines Ensembles auf. Auch Elektro Guzzi haben ein Konservatorium überstanden, „ohne Schaden zu nehmen“, wie sie einmal sagten.
Bisher sind das nur zarte Annäherungen. Eine komplette Formensprache zu absorbieren ist aufwendig. Der Bedarf ist aber da. Der Leere, die sich in den unzähligen Uraufführungen der Neuen Musik manifestiert, stehen zunehmend positive Erfahrungen mit dem „anderen Lager“ gegenüber. Dass die eigentliche Kunstmusik des Rhythmischen nichtakademische elektronische Musik in all ihren Spielarten ist, wird zunehmend begriffen. Gegen die Überzeugungskraft, die qualitative Evidenzen entwickeln, überlebt auf Dauer nun einmal keine Dogmatik. Ebenso sind Alternativen zum ewig selben Funktionssound der Clubs gefragt wie noch nie. Man muss jetzt nicht jedes Ballett mit Jeff Mills unterlegen – aber die Schranken können getrost abmontiert werden. So finden sich hoffentlich Dinge, von denen wir bisher nichts ahnten.
Stefan Goldmann ist Produzent, DJ und Mitbetreiber des Labels Macro. Er arbeitet derzeit an einem Kompositionsauftrag des BASF Kulturprogramms für ein gemeinsames Konzert mit dem Casal Quartett beim Jetztmusikfestival 2012 in Ludwigshafen. Der vorstehende Artikel erschien ursprünglich im Groove Magazin, Ausgabe 8/9 2011.